
12 Nov “Frauen geht es darum, etwas zu bewirken“
Interview in der Verlagsgruppe Bistumspresse
Die Organisation Religions for Peace will weibliche Religionsführerinnen stärken und lädt Vertreter aus der ganzen Welt dafür zu einer virtuellen Tagung ein. Annette Schavan ist Vorsitzende der Stiftung Friedensdialog, die die Konferenz ausrichtet.
Im Interview erklärt sie, warum die Welt mehr Frauen in Führungspositionen braucht – in Staat und Religion.
Welche religiöse Frau mit Führungsverantwortung bewundern Sie?
Die Generalsekretärin von Religions for Peace, Azza Karam, ist eine eindrucksvolle Frau. Azza Karam ist Muslimin, kommt aus Ägypten, arbeitet als Autorin und Professorin und ist die erste Frau an der Spitze der Organisation. Sie wirkt in Religion und Politik und hat dabei eine beeindruckende spirituelle Ausstrahlung. Wir brauchen religiöse Führungspersonen wie sie, die deutlich machen, welche geistige und geistliche Kraft hinter ihrem Einsatz steckt.
Warum ist das so wichtig?
Weil Religion die Quelle von Hoffnungen und Werten vieler Menschen ist. Religion spielt in der Politik eine größere Rolle, als wir in Europa gedacht haben und teilweise heute noch denken. In vielen Regionen der Welt wird die Religion anders gesehen. Deshalb sind auch die Europäer mittlerweile viel stärker an der Frage interessiert, wie sich Religion auf die Politik auswirkt. Die zentrale Frage hierbei ist: Wie können Religionen zu Frieden beitragen und nicht zu Gewalt und Terror? Wie kann das Gespräch der Religionen so aussehen, dass daraus Initiativen für mehr Frieden und weniger Gewalt entstehen?
Und dafür braucht es mehr weibliche Religionsführerinnen?
Die Welt braucht in allen wesentlichen Prozessen der Entwicklung die Erfahrungen von Frauen und Männern. Wichtig ist, dass wir uns klarmachen, wo Frauen schon überall wirken. Zum Beispiel, wenn es um das Zusammenspiel der Religionen geht.
Was machen Frauen da anders als Männer?
Die Frage, was Frauen anders machen, wird im Hinblick auf Männer nie gestellt. Wir sind schon ein großes Stück weiter, wenn wir aufhören, immer nur die Frauen zu fragen, was sie besser machen. Sie machen es auf ihre Weise – und diese Weise muss vorkommen.
Vor kurzem haben Sie eine Aussage von Papst Franziskus zitiert, wonach es wichtig ist, Prozesse in Gang zu setzten, nicht Räume zu besetzen. Sie sind der Meinung, dass Frauen das besonders gut können. Warum?
Ihr Veränderungswille ist häufig besonders ausgeprägt, weil sie nicht an Institutionen hängen. Frauen sind nicht schon seit Generationen in Institutionen verankert, deshalb haben sie eher die Vorstellung, dass etwas anders werden kann. Aber es ist der falsche Ansatz, Geschlechtergerechtigkeit zu wollen, weil Frauen etwas anders machen. Viel wichtiger ist doch, festzustellen, dass die politische Sozialisation von Frauen bereits dazu geführt hat, dass Dinge in Bewegung geraten sind. Dafür muss man sich nur mal die Politik der Bundesrepublik Deutschland anschauen.
Was können religiöse Frauen mit Führungsverantwortung konkret in der Welt verändern?
Frauen geht es darum, etwas zu bewirken, sie sind praxisbestimmt. Ihr Führungsverständnis ist nicht von abstrakten Vorstellungen geprägt, sondern von ihren Erfahrungen. Und es geht ihnen nicht darum, vorrangig ihre eigenen Interessen zu verwirklichen. Wenn wir uns die Welt gerade anschauen, ist unumstritten, dass wir Führungskräfte brauchen, die von sich absehen können und die sich dem wirklich Lebensfördernden und Friedensstiftenden widmen.
Woran machen Sie das fest?
An der wachsenden Friedlosigkeit, an der wachsenden Abgrenzung, an den immer häufiger zu hörenden Parolen „Wir zuerst“ und an der nachlassenden Bereitschaft zu Solidarität. Das geht bis dahin, dass internationale Vereinbarungen, die schon erreicht waren, aufgelöst werden. Gerade in Zeiten der Pandemie droht die Gefahr, dass das Gegenteil von dem geschieht, was eigentlich notwendig wäre. Anstatt Allianzen der Solidarität zu stiften, schauen alle nur auf ihre eigenen Positionen.
Und Männer können da nicht von sich absehen?
Männer und Frauen können theoretisch alles gleichermaßen, aber die Realität zeigt, dass es Korrekturbedarf gibt bei dieser Art von politischer Alleinunterhaltung.
Wo haben religiöse Frauen denn heute schon Führungsverantwortung?
Nehmen wir als Beispiel das Christentum. Da haben Frauen weltweit Führungsverantwortung: in Orden, in der Theologie, an den Universitäten, in großen Institutionen der Diakonie und der Caritas, in vielen Bereichen, in denen sich Kirche äußert. Für die Ausstrahlung dieser Institutionen ist das wichtig.
An der Spitze sind die Weltreligionen im Moment aber doch stark von Männern dominiert.
Ja, aber alle Religionsgemeinschaften müssen die Frage der Geschlechtergerechtigkeit ernst nehmen oder sie werden an Relevanz verlieren. Wenn wir bei der Versammlung von Religions for Peace jetzt über politische Fragen und Führung diskutieren, muss dieses Thema immer mitlaufen: Wie verwirklichen Religionen die Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern?
Wie können sich Religionen glaubwürdig für Gerechtigkeit einsetzen, wenn sie sie selbst nicht konsequent praktizieren?
Bloß weil ich etwas noch nicht geleistet habe, heißt das nicht, dass ich es in der Welt nicht für richtig halten kann. Die Grundaussagen des Christentums sind wichtige Impulse. Und sie bleiben wichtig – auch wenn die Kirche sie nicht immer selbst umsetzt.
Was verhindert die Gleichberechtigung von Frauen als religiöse Autoritäten?
Oft liegt das an kulturellen Prägungen. Viele Gesellschaften können mit den Debatten um Geschlechtergerechtigkeit noch nicht viel anfangen. Dort gibt es patriarchale Strukturen, von denen sich auch Religionsgemeinschaften nicht freimachen können. Aber wenn man sich zum Beispiel die katholische Kirche anschaut, muss man sich sicherlich fragen: Welche Theologie des Amtes haben wir? Und wird die weiterentwickelt oder bleibt sie da stehen, wo sie jetzt ist? Daraus ergeben sich dann die Konsequenzen für Leitungsverständnis und Führungsfragen.
Papst Franziskus beklagt in seiner neuen Sozialenzyklika, dass Gesellschaften die Gleichberechtigung von Frauen nicht umsetzen.
Das ist eine realistische Feststellung. Der Papst muss natürlich damit rechnen, dass diese Frage dann auch mit Blick auf die Kirche zurückgestellt wird.
Sie waren vier Jahre lang Botschafterin im Vatikan. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass sich in der katholischen Kirche etwas weiterentwickeln könnte?
Je stärker ein Thema gesetzt ist, je häufiger darüber gesprochen wird, umso mehr werden immer und überall die Gegenkräfte mobilisiert. Diese Auseinandersetzung muss geführt werden und sie wird geführt. Wie sie ausgeht, weiß ich nicht.
In anderen Regionen der Welt sind Entwicklungen wie das Frauenpriestertum im Moment unvorstellbar. Ist eine weltweite Gleichberechtigung von Frauen und Männern in den Religionen nicht utopisch?
Es geht nicht allein um Gleichberechtigungsfragen, sondern darum, sichtbar zu machen, wie Frauen weltweit heute schon wirken. Im Blick auf alles andere, das heute vielleicht nicht vorstellbar ist und wo auch viel Gegenwind kommt, braucht es den berühmten langen Atem.
Sie haben davor gewarnt, dass Religionsgemeinschaften nicht weiterbestehen können, wenn sie Geschlechtergerechtigkeit nicht ernst nehmen. In der katholischen Kirche in Deutschland gibt es gerade eine Bewegung von Frauen, die damit droht, die Kirche zu verlassen, wenn sich nichts ändert. Warum nimmt Rom das nicht ernst?
Ob das dauerhaft nicht ernst genommen wird, weiß ich nicht. Wir denken in zu kurzen Zeiträumen. Bis zum Fall der Mauer hat es eine zehn Jahre lange friedliche Revolution gebraucht. Man sollte also nicht schon nach zwei oder drei Jahren sagen: Das bringt alles nichts. Wer da schnell aufgibt, weil er sagt „Ich erreiche es in meiner Generation nicht mehr“, braucht gar nicht erst anzufangen.
Was müssten religiöse Frauen anders machen, um noch mehr gehört zu werden?
Ich denke, es kommt zunehmend auf internationale Vernetzung an. Religion gibt es weder nur in Deutschland noch nur in der katholischen Kirche, sondern weltweit. Und da gibt es Impulse aus anderen Religionen, die für die eigene Religionsgemeinschaft interessant sein können.
Zum Beispiel?
Denken Sie an das Judentum: Daran, wie Rabbinerinnen in Deutschland wirken, wie sie ihre eigene Religion deuten – das ist etwas, das für theologisch interessierte Frauen auch im Christentum inspirierend ist. Oder die breiten Debatten um Frauen im Islam. Religiöse Frauen sollten nicht nur innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft bleiben, sondern sich anschauen: Wie haben sich Frauen in anderen Religionen und in anderen Regionen entwickelt? Wo sind Frauen weltweit gerade besonders aktiv?
Das Interview führte Sandra Röseler.
das Interview ist in der Verlagsgruppe Bistumspresse und damit in acht verschiedenen katholischen Bistumszeitungen erschienen.
Bild: Doppelseite der gedruckten Ausgabe vom 08.11.2020